Seit März 2020, dem Beginn der Coronakrise, haben freischaffende Künstler und Literaten, Vereinigungen wie die DFG, Bildungseinrichtungen und Institutionen wie Theater, Oper, kommunale Kinos und manche andere trotz harter Einschränkungen beachtliche Kreativität entwickelt, um Kultur zu verteidigen und geistige wie soziale Gemeinschaft zusammen zu halten.

In anderen Bereichen entstand eher der Eindruck, dass Kultur ein zu vernachlässigender Überfluss sei. Es wurde des ungeachtet viel über Kultur geredet. Und es war nicht immer klar, worüber man denn nun wirklich redete. Deshalb sei mir gestattet, einmal eine Definition des Begriffs Kultur zu versuchen. Wenn dies zu einer kontroversen Diskussion führen sollte, umso besser.

Leoluca Orlando, vormals Bürgermeister von Palermo und Europa-Abgeordneter, beschrieb das Prinzip einer erfolgreichen Politik mit dem Symbol des zweirädrigen sizilianischen Karren, der sich nur fortbewegt, wenn seine beiden Räder funktionieren und im gleichen Rhythmus rollen. Dabei steht das eine Rad für Legalität, das andere für Kultur. Eine bestechend knappe Formel, die, übertragen auf Deutschland, Frankreich, ganz Europa und darüber hinaus, den zurückgelegten Weg und die Forderungen an die Zukunft sehr deutlich fassbar macht.

Dass wir seit nunmehr 75 Jahren in einer funktionierenden Demokratie und im Frieden mit unseren Nachbarn leben, wurde durch das Prinzip der Legalität möglich: ein geregeltes, einklagbares Verhältnis zwischen Volk und Staatsmacht sowie zwischen den Nationen. Zum Beispiel zwischen Deutschland und Frankreich. Aber Staatsverträge haben nie ausgereicht. Ohne Kultur wäre die Entwicklung eines friedlichen, lebendigen und lebenswerten Miteinanders zum Scheitern verurteilt. Kultur, das bedeutet Bemühen um die eigene Identität, und um das Begreifen und Akzeptieren der Identität des Anderen. Kultur, das bedeutet Kommunikation und Austausch mit den Nachbarn – innerhalb und außerhalb der Grenzen. Kultur, das bedeutet Auseinandersetzung mit der geistigen und historischen Erbschaft, aktive Teilnahme an gegenwärtigen Entwicklungen und gemeinsames Erschaffen von Visionen für eine lebenswerte Zukunft.

Deutschland und Frankreich schufen in 75 Jahren durch das Zusammenwirken von Legalität und Kultur eine beispielhafte Partnerschaft, die auch entscheidend zum Zusammenschluss Europas beitrug. Wie wenig selbstverständlich dies allerdings ist, zeigt die Momentaufnahme dieses Jahres 2020. Corona ist nicht nur ein Virus. Corona ist auch ein Symbol für Abschottung und Auseinanderbrechen nationaler wie sozialer Gemeinschaften. Was sich in so manchen Köpfen schon lange vorbereitet hat, wird mit Corona zum Fanal unserer Gesellschaften.

Die Risse in unserer Gesellschaft werden immer tiefer. Die Kommunikation im Alltag ist mehr und mehr von Aggression geprägt. Leute, redet miteinander – und mit uns!
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Wolfgang Schwarzer

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